Christoph Peter Seidel „METASTRUKTUR – MALEN ALS TATSACHE“ April 2022
I. SCHNITTSTELLEN – KONSTRUKTE
Wer heute als Künstler:in das Kunststück fertigbringt, das eigene Werk exakt in der Schwebe zwischen Alt und Neu, zwischen Malen und Machen, zwischen illusionärer Kunst und konstruierter Form entstehen zu lassen, der besitzt ein Pfund, mit dem es sich nicht schlecht leben lässt. Oder anders gesagt, mit der er/sie für sich Anschluss an die nächste, unmittelbare Gegenwart gefunden hat. Wer dabei genauer hinsieht, der wird bemerken, dass Christoph Peter Seidels Artefakte genau an den Schnittstellen von Gemachtem und Gemaltem, zwischen erinnertem Machen und Form gewordenen Prozessen von Veränderung entstehen. Mit anderen Worten: Wie auch die Romantiker*innen vor ihm hat der Künstler eine Vorliebe für Temporäres, etwas sich gerade, in der Gegenwart des Betrachtens, Vollziehendes.
Der glückliche Ausdruck „Malskulpteur”, den Dirk Manzke einmal für Christoph Peter Seidel gefunden hat, speist sich aus dessen langsamer, selbstkritischer Herstellungsweise, bei der sich aus beiden tradierten Gattungen im Grunde alte Fragestellungen neu herausgebildet haben. Seidels künstlerische Produktion bezieht ihre Inspirationen – zu diesen zählen namentlich solch singuläre Größen wie Jackson Pollock, On Kawara, Agnes Martin, Roman Opalka und Caspar David Friedrich – schon früh aus existenziell gesteigerten Fragen, die sich vor allem mit Funktionen und Dimensionen seines eigenen Machens auseinandersetzen. So etwa auch mit dem zeitlosen Problem der Moderne: Was ist und wie wird für mich als Produzent ein Bild zum Bild? Wie funktioniert (jetzt und hier) Farbe? Wie verändert sich (plötzlich) Farbe, wenn sie selbst als plastisches Material eingesetzt wird? Bezeichnenderweise handeln systemische Fragen dieser Art jeweils von Übergängen von einer Dimension in eine andere, möglicherweise noch unbekannte. Seidels Werke bilden in ihrer langen „Evolution” letztlich endlose Versuche eines ewigen Wandels von Farbformen in Raumlineaturen, um jeweils neue Anschlüsse an die Gegenwart zu finden. So melancholisch und selbstverloren, in sich kreisend seine Werke zunächst wirken, so lässt sich das Wahrnehmen ihrer Besonderheiten auch als Aktivierung des eigenen Blickes erfahren.
Fragen können ebenso wie Fiktionen plötzlich in neuartige Formen transformiert werden. Seidels Fragen an die Natur des Bildes beinhalten so etwas wie ein reflektierendes Machen, eine Realisierung von etwas, das sich als Form selbst erzeugt, sich dabei selbst trägt und sich als Prozess seiner späteren Wahrnehmung auch noch selbst verändert. CHRISTOPH PETER SEIDEL METASTRUKTUR In jahrelang andauernder und auch durchaus kunstskeptischer Auseinandersetzung hat sich Seidel vom einstigen Maler heute zum mit Farbe arbeitenden Konstrukteur von plastischen Artefakten entwickelt, also von zweckfrei- funktionalen Gebilden, bei denen das Auftragen von Farbschichten weitestgehend unabhängig von ihrem Trägermaterial angewandt und so zu einer Beobachtung von Kunstbeobachtung geworden ist. Seidels zeitaufwendiges, material-meditierendes Verwenden eines mit Glasfiberstücken versetzten Acrylfarbgemenges verwandelt seine frühe konzeptuelle Malerei auf einer bedeutungserzeugenden Oberfläche in ein sich rituell wiederholendes, plastisches Auftragen von dreidimensional wirkenden Farbschichten. Man könnte seine Gebilde auch als Meta–Konstrukte bezeichnen, die ihr aktuelles Gemachtwordensein formal kommentieren. Ein Werk ist ein Konstrukt, in das seine eigene Fragen eingebaut sind …
Die alte, ewig aktuelle und zutiefst romantische Frage lautet heute: Wie erzeugt und transformiert ein Bild seine Bedeutung als Bild, verwandelt Seidel seinerseits in eine materielle, sich selbst tragende Behauptung: Was man hier sieht, ist nichts als ein wiederkehrend serielles, „minimales”, Bedeutung produzierendes Raster, das so gut wie möglich seine individuelle Expressivität zugunsten seiner Verwandlung reduziert hat – ein grau-dunkles quadratisches Formengebilde, das nur nach längerem Hinsehen kaum wahrnehmbare Unregelmäßigkeiten preisgibt. Eine noch aus der Frühzeit des Künstlers stammende Frage – wie verhalten sich ausdrucksneutrale Rasterstrukturen zu den potenziell Kunst erzeugenden expressiven Oberflächen? Hat sich in „o.T. 2021” plötzlich in einer Weise verdichtet, in der alle Fragen an die Kunst in einer sich selbst erzeugenden Evidenz zu Form geronnen sind. Bezeichnenderweise eine Form, die weder Malerei noch Skulptur, weder Expression noch Negation sein will oder sein kann.
Das Problem des Meta-Machens, an dem Christoph Peter Seidel arbeitet, entsteht vor allem in und aus dem Moment, in dem ein Begriff aus der Welt des Zweidimensionalen (ein Bild) in eine Dimension des Dreidimensionalen verwandelt wird – dies jedoch in einer paradoxen Weise einer wechselseitigen Durchdringung. Diese Gleichzeitigkeit von zwei Dimensionen des Machens ist dabei nicht nur ein Problem des Künstlers, sondern vor allem auch ein Akt des Rezipienten – jemand, der seinerseits mittels Sprache realisiert, wie ein doppeltes Reflektieren einen fiktiven Raum mit einer zeitlichen Dimension (eines Machens) kombiniert.
II. KUNST EXPLIZIT MACHEN – DIMENSIONSGEWINNE
Alles, was heute aussieht, als würde es als autonomes Werk daherkommen, ist darauf angewiesen, dass es von einem fremden Gegenüber in Sprache übersetzt, explizit gemacht und so in Gegenwärtigkeit verwandelt wird. Sprache, das zentrale Medium des Betrachters, bewegt sich gegenüber dem Sichtbaren, dem Material des Künstlers, in einer interessierten Distanz. Ein Kunstwerk betrachten heißt heute: mit einem lebendigen Gegenüber, einem lebenden Werk, zu kalkulieren und in einen Austausch zu treten – so grau und gerastert, so verschlossen und still es in Seidels Arbeit einem auch zunächst erscheinen mag. Auch hier, in diesem kommentierenden Text zum gemachten Werk, geht es um einen eigenständigen Dimensionsgewinn: Ein Kommentar zu einem Werk erschafft eine zusätzliche Dimension aus Sprache; ein zum Sichtbaren hinzugekommener Kommentar formulierte eine zusätzliche, explizit gemachte Dimension einer ästhetischen Erkenntnis.
Was nämlich beides, die Dimensionen der Sprache und des Sichtbaren, voneinander unterscheidet und gleichzeitig aufeinander bezieht, ist die Resonanz und Sensibilität, mit der sich beide ihrem jeweils anderen Medium geben über deren realisierte Annäherung. Damit nähern wir uns bereits einem nicht unwichtigen Aspekt in Christoph Peter Seidels Werk an. Je mehr dieses, sein hermetisches Werk uns reizt und geradezu auffordert, mit Mitteln der Sprache, meiner Sprache, in Sprache übersetzt zu werden, desto eher riskiert diese Annäherung eine sensible Form von Nähe, auch und besonders die Werke Seidels sind heute in Form übersetzte Risiken – sie handeln vom sich vorsichtig verhaltenden Annähern. Die frühere Idee des autonomen Werks hat sich heute, nach der Geburt von so vielen Ismen und Stilgattungen, in eine Kunst des Annäherns verwandelt. Werke sind heute vielfach heteronom, durchzogen von Erinnerungen an Nichtgelingendes, Widerständiges und Unverfügbares. Gerade heutige Werke können in dieser, ihrer hehren, scheinbar leicht zu übersehenden Nicht- Spektakularität etwas hörbar machen, was zunächst nur für sich steht und gesehen werden will. Es scheint, als würde Seidels aktuelles Werk in seiner spröden Nichtaktualität sich gewissermaßen innerlich gegen jede neue, künstlich herbeigeführte Verfügbarkeit von außen sperren wollen – obwohl es sich demonstrativ in den Innenraum, die Sprache seiner Betrachtenden, hineinbewegt.
III. ZWISCHEN WUNDERBLUME UND SELBSTBEZOGENHEIT
Kunst ist nicht in jedem Moment dafür gemacht, um als Kunstwerk verehrt, bewundert oder wie in einer Top-Ten-Liste ständig aktuell verglichen zu werden. In seltenen Augenblicken lebt Kunst in der Verkörperung eines Werks in Momenten eines bewusst gemachten oder gewordenen Innehaltens. Gerade auch für Christoph Peter Seidel gilt: Werke besitzen in und mit ihrem Kunstanspruch – spätestens seit der Romantik – die wunderbare Eigenschaft, in bestimmten Momenten zu einem Anteil einer Biografie zwischen Leben und Werk zu werden.
Wer sich als Betrachtender zwischen zwei Polen (hier zwischen Malen und Machen) bewegt, der reagiert normalerweise irritiert: Weder ist dieses Werk eine dreidimensionale Skulptur noch eine in die Tiefe des Lebens hinein gebaute Malerei. Seidels Werk entlastet uns von zu genauer Kategorisierung und provoziert gleichzeitig unser visuelles Neugierverhalten. Sein Werk tut so als ob: als wäre es ihm einerlei, ob es als Kunst oder als Nichtkunst bewertet würde. In jedem Fall besteht Seidel aber darauf, dass es einer gewissen Anstrengung bedarf, um sich ein Bild dessen zu machen, was da gerade vor ihm entstanden ist und weiter entsteht.
Seidels Kunst repräsentiert ein angewandtes Erkunden von Grenzphänomenen – einen Modus einer sich selbst anwendenden Kunst, die ihr eigenes Problemlösungspotenzial besitzt. Seine Malerei verkörpert ein erweitertes Medium, das bislang kaum weder mit Verwandlungen in räumliche Dimensionen noch mit seiner Angewiesenheit auf sprachliche Differenzierungen experimentierte.
Seidels Arbeit „o.T. 2021” deutet an, dass ihm diese Dimensionsgewinne gelungen sind. Vor allem diese jüngste Arbeit offenbart nichts, jedenfalls nichts vordergründig Spektakuläres – wohl aber den Zwang, den sein jeweiliges Gegenüber verspürt, das eigene Beobachten anders zu beobachten, mit dem Werk in ein tieferes Gespräch zu kommen; vielleicht handelt es sich ja bei Seidels Werk um eine sublime Form von Dimensionierung, eine zeitgenössische Erhabenheit von widersprüchlichen Kräften, die im Werk und in der Annäherung an dieses offenbar werden. Seidels Werke wollen – anders als die alte, stille und einsame Versenkung eines Betrachtenden in das Bild – gemeinsam besprochen, gemeinsam im gegenseitigen Austausch zwischen allen Beteiligten verhandelt werden. In seinen Werken herrscht eine kaum bewusst wahrnehmbare Spannung zwischen einer zeitgenössischen Tendenz zur abstrahierenden Form und einem fast überzeitlichen Wunsch, sich wenn möglich von allen Vorgaben und Traditionen der Gegenwart fernzuhalten. Dass Künstler:innen in der Moderne als „Hofnarren der Gesellschaft” (Eva Menasse) verehrt und verpönt waren – diese polemische Einschätzung würde Seidel wohl nie teilen. Ganz im Gegenteil: „Mein Hauptanliegen ist, eine mir entsprechende Aktualität zu leben” (Jean Cocteau, 1947) – diese ebenso zeitlose wie zeitbedingte Wertschätzung des Eigenen mag Christoph Peter Seidel für sich und damit für die Kunst entdeckt haben.
Fotos
Lukas Huneke
Text
Michael Kröger
Abbildung
„o. T. 2021“ Acryl + Aluminium Format 100 X 100 X 8 cm