25. Mai 2018

VER.DICHTUNGEN

Christoph Peter Seidel präsentiert in der Ausstellung – VER.DICHTUNGEN – malerische Arbeiten aus den vergangenen zwei Jahren, die sich mit dem Phänomen der Farbe als plastischem Material beschäftigen.

Was wissen wir von den uns so oft berührenden Facetten der Kunst, etwa der Malerei und deren Verschränkungen und Bezügen zu Skulptur oder Installation? Im Rückblick mit all unseren Vorlieben und Dissonanzen durchaus so manches, das uns bereichern und verändern konnte, uns zumindest beschäftigte und bewegte. Kunst kann sich immer wieder neu erfinden und uns immer wieder neu entzünden. Indem Kunst, die wir brauchen, uns berührt, verändert sie uns.

So schauen wir auf die Kunst mit einem Gemisch aus Wahrnehmung, Erfahrung und Erwartung. Das Unbekannte, das Ungesehene hat eine verführerische, eine gleichsam anziehende, womöglich magische Dimension. Auf diese Dimension des Ungesehenen zu treffen, ist eine unserer Hoffnungen. Wir brauchen Überraschungen, damit Erstaunliches einfließen möge aus der Kunst in unseren Alltag. Denn noch immer gibt es, was in der Kunst als das Neue markiert werden kann. Und wer damit in Berührung kommt, spürt so etwas wie einen ungewissen, einen nicht greifbaren, doch für Momente ihn verwandelnden Zauber.

 

Geschichtete Malskulpturen
Zur Malerei von Christoph Seidel
von Dirk Manzke

 

Malerei ist Experiment
Der Maler Christoph Seidel erweitert die Arbeitsmethoden malerischer Schichtung, Häufung, Überlagerung und Fügung. Malerei berührt bei ihm nicht nur die einst strikte Sparte Skulptur, sondern verflüssigt diese tradierte Grenze. Erstaunlich selbstverständlich trifft Malerei nun modellhaft auf Arbeitsweisen zwischen den Disziplinen Plastik und Architekturentwurf. Dabei entstehen in einem malerischen Prozess maßvoll räumliche Malmodelle. Während eines erkundenden und beobachtenden Ausprobierens wird die Malerei beinahe aufgegeben, um schließlich über ein architekturnahes Raummodellieren als dreidimensionale Malerei zurückzukehren.

 

Dazu bemalt Christoph Seidel nicht etwa Architektur und er dekoriert sie auch nicht. Als Maler aber entdeckt er mit den Mitteln der Malerei den Raum, wendet sich sogar Fragen der Konstruktion zu. Dabei beleiht er keinesfalls abzubildende Vorlagen und bringt auch keine neuerlichen räumlichen Perspektiven hervor. Eher nähert sich der Künstler unbestimmten räumlichen Erkundungen. Selbst erstaunt erreicht er dort den Raum, wo das freie Experimentieren als ständige Inspiration etwa zum malerischen Objekt führte.

 

Nach langen Arbeitsversuchen, in denen Christoph Seidel lavierend und schichtend, träufelnd und tröpfelnd ausprobierte, konnte er in letzter Zeit einen Weg erschließen, aus dem seine Malerei neu hervorgeht. Als über Jahrzehnte am eigenen malerischen Tun geschulter Farbenkenner wählt er feinste Tonwerte und lässt über stoffliche Nuancen der Farbe labil anmutende Skulpturen entstehen, die die Farbe beinahe zum Baustoff erklären. Seidel versteht diesen Vorgang als einen gelassen anmutenden, völlig selbstverständlich handwerklichen Prozess. Er versucht, etwas Sinnlich-Konstruktives entstehen zu lassen, ohne sich auf gängige Abbildmuster der Malerei einzulassen. Was man zu sehen bekommt, ist das, was man sieht: aus Farbe in feinen Fasern ziselierte Malskulpturen. Erst einmal nichts Anderes. Der Künstler will dabei mit den Mitteln der Malerei eine eigenständige, möglichst autonome Realität entstehen lassen. Seidels Kunst ist im Prozess seiner Experimente mit dem Material Farbe unmittelbar das, was man geradeaus als ´real´ benennt: Ich sehe was, was auch du siehst.

 

So entsteht im allmählichen Prozess eine plastisch werdende Schichtenverlaufsmalerei, eine sich in feinsten Farbverläufen aufbauende, auch hinaufsammelnde Bildwelt. Dieses Schichten von Farbe entfaltet sich vorm beobachtenden Künstler völlig eigenständig und bewahrt dabei Unbekümmertheit. Dabei nähert sich Malerei dem Objekt, ohne vordergründig Objektkunst zu werden.

 

Räumliches Farbgeschehen
aus dem Atelier
Diese Malerei ist still gewordenes und doch sich scheinbar bewegendes Farbgeschehen. Durch kaum erkennbare oder erahnbare Arbeitsweisen entfaltet sich hier allmählich ein Verfestigen von Räumlichkeit in Farbe. Vielfältige Eindrücke breiten sich aus. Durch geduldiges Forschen im offenen Umgang mit Farbe wird nach und nach sichtbar, was eigentlich getan wird. Indem Christoph Seidel mit Farbe etwas geschehen lässt, dem er selbst zuschaut, wird sein Forschen sinnlich erfahrbar. Dabei wird die malerische Handlung ein subtiles Gemisch aus konzeptionell-konstruktiver Absicht, die bereits vor Beginn der Arbeit ausgelotet wird, Selbstvergessenheit und dem Umkreisen des Zeiteinsatzes, der für die ungewöhnliche Form des tröpfelnden Agierens sehr hoch ist. Da wird über die Konstruktion des Malerischen nachgedacht, die wirksam zu einer Stabilität der Farbe führt. Zugleich steht die Frage der künstlerischen Wirkung im Raum, denn jede der aufgetragenen Schichten verändert die Tiefe, den Schatten, die Plastizität der Malerei. Zugleich lässt er Künstler aber auch etwas vor sich entstehen, dass nicht kalkulierbar ist und gerade deshalb die vorgedachten Konstruktionen verschiedenartig ummantelt. Seidel lässt also auch etwas geschehen. Hier treffen sich Unberechnetes und kaum Kalkuliertes, das aus dem unmittelbaren Umgang mit der Farbe selbst hervorgeht und bewusste Entscheidungen zur Konstruktion und Statik. Einerseits schaut der Künstler dem, was wer tut, selbstvergessen und verschwiegen zu, andererseits beobachtet er streng die Leistungsfähigkeit der eingefügten Konstruktion. So spürt er eingekehrt in die Zurückgezogenheit eigenen Schauens auf, was in unserer heutigen Ablenkungskultur kaum noch Kinder vermögen. Es ist die unbelastete Freude am ungesicherten Ergebnis. Es ist die Begeisterung für malerische Ergebnisse, die zuvor selbst für den Künstler unbekannt und ungesehen blieben. Es ist die Überraschungslust, dass plötzlich die Farbe selbst das Vorgehen bestimmt.

 

Diese im Experimentieren entstehende Malerei kennt keinerlei große Gesten, kein Pathos, nicht einmal eine vordergründig aussprechbare Botschaft. Eher ist sie geschützt durch eine eigentümlich stille Lust an offener Einlassung. Seidel gibt sich beglückt, wenn er erlebt und erkennt, wie sich durch bewusstes konstruktives Denken und ein zuschauendes Dabeisein das Material Farbe im Tun verhält und dabei zum künstlerisch autonomen Element gerinnt.

 

Christoph Seidel lotet seit Jahren die Rahmenbedingungen der Farbe aus: Pigment. Dichte. Konsistenz. Schwerkraft. Substanz. Tönung. Wirkung. Wir kennen ihn als Farbexperimentierer, als Forscher im Sujet farbiger Nuancen, collagierter Expressionen oder explodierender Spritzflächen. Seine Malerei bleibt in Bewegung, entwickelt sich, sucht nach immer neuen Wegen, in denen sich Neues herauskristallisieren lässt und findet sie.

 

Inzwischen nun sehen wir einen zusätzlich auch statisch denkenden und konstruktiv handelnden Malskulpteur. Daraus erklärt sich die neue Quintessenz seiner künstlerischen Untersuchungen, die zurückgenommen und unscheinbar, zugleich aber auch streng im Prozess organisiert ist und sich so in immer wieder veränderter Weise zu dem puren Material Farbe bekennt. Das alles geschieht in gelassener Zurückgezogenheit, fern der großen Töne und öffentlichkeitswirksamen Posen im Atelier. Seidel ist ein ernsthafter und konzentrierter Künstler und er weiß sich im Kunstbetrieb dort zu verweigern, wo es dem Ernst der Künste wenig zuträglich ist.

 

Konstrukte von Malskulpturen
Was diese Malerei trägt, ist das Entdecken des eigenen Tuns. Hier schaut einer sich selbst zu, indem er agiert. Wir schauen und lernen, dass das, was mit Farbe in gleitenden Tröpfelprozessen aufgeschichtet wird, einst jahrhundertelang in der Fläche verblieb. Christoph Seidel hat mit seiner Malerei bereits früher den Raum, das Räumliche, den Willen zur Dreidimensionalität betreten. Seine Malerei ist ein Vorgang, sich der Fläche zu entziehen. So gerinnt sie zu ihrer elementarsten Daseinsweise, der Farbe als Werkstoff, die nun nicht mehr nur auf der Fläche grundiert, sondern im Raum stabil gehalten werden muss, die sich in konstruktiven Zusammenhängen wiederzufinden hat. Farbe ist nicht mehr Mittel des Anstrichs, des Duktus, des Auftrags, nein, Farbe wird mit Fragen der Statik, des Gerüsts, des Bauens, der Tektonik und schließlich der Architektur konfrontiert und konfiguriert. Für diese Farbschichtungen ist Christoph Seidel in nicht endender Langsamkeit und endlosen Schichtungen immer wieder ausprobierend unterwegs. Er versucht mit Rasterkonstruktionen, Ständereinbauten und Drahtverfestigungen die weiche, auch in Temperaturschwankungen sich verändernde Farbe zwischen Modellfügung und Farbklang einzufangen und festzuhalten. Facetten des Räumlichen werden zu integrierten Elementen der freien Malerei: Raumgitter, Gerüstkonstrukte, Gliederraster, Schichtenverwebungen, Materialverstärkungen. Damit wird eine neue Spannweite des Umgangs mit Farbe erkennbar und trotzdem bleibt Farbe natürlich Farbe. Mit ihr aber wird die Erkundung einer malerisch motivierten Forschungsmethodik innerhalb der Künste offenbart. Die Schwerkraft der Farbe etwa, die Bindungskräfte des Farblichen, physische, physikalische und atmosphärische Aspekte werden neu konstituiert und erhellt. Dazu wird der Farbträger selbst zum Thema, gehört unmittelbar zur Konstruktion der Seidel´schen Malerei, ist nicht abzulösender oder sich verselbständigender Teil des Ganzen. Malerei versinnlicht hier die Zusammenführung von Farbe und Konstruktion. Dabei ist die Konstruktion sichtbar oder verborgen noch Hilfsmittel, um die Farbe in ihrer Substanz zu stärken, um sie zum Stehen zu bringen. Sie, die Konstruktion, ist rationaler Halt für eine weiterhin sich frei entfaltende Malerei, die in einem stillen, ritualisierten, ja meditativen Arbeitsprozess nach und nach entwickelt wird.

 

Und plötzlich treffen sich im Werk der Mönch und der Handwerker, der Künstler und der Forscher. Traditionelles wie die Malerei und Neuzeitliches wie das räumliche Modell erscheinen in diesem Gefüge aufeinander bezogen und verknüpft. Plötzlich steht sichtbar im Bannkreis des Wahrnehmens der malerischen Konstrukte die von ihnen ausgehende Wirkung. Die Antagonismen von Festigkeit und Weichheit berühren statisch und fließend zugleich Aspekte wie Verdichtung und Transparenz. Das Zusammenführen all dieser einander divergierender Vorgänge führt in Form von Malskulpturen zu verdichteten Raum aus gedehnter Zeit. Das Tröpfeln dauert lange. Das Schichten benötigt Zeit, still vergehende Zeit. Es ist ein Vorgehen in hingebungsvoller Geduld. Und bald erscheint ein malerisches Gemisch aus verfestigtem Raum, gebannter Zeit und im Material Farbe geronnenem Licht auf, aus dem diese geschichteten Malskulpturen hervorgegangen sind.

 

Es ist, als ließe sich aus dem malerischen Tun ein veränderter, sensibilisierter Zugang zum Umgang mit Materialität erschließen. Und Inspiration braucht der sich heute ungezügelt ausweitende Umgang mit wenig haltbaren, kurzlebigen Materialien, die sich als Alltagsmasse hilflos zwischen Styropor, Plastik und RAL-Farbpaletten in unseren Städten und Landschaften ausweitet, ohne ein konstituierendes Interesse zu vermitteln. Würde man den geschichteten Malskulpturen Christoph Seidels folgen, so müsste mit ihr ein Impuls hin zum qualitativen Umgang mit Materialien aufgezeigt werden. Das Verständnis von Raumgestalt würde dann endlich wieder die Frage der Authentizität von Materialien aufdecken und die Gestalt unserer Stadtlandschaften erschiene, angeregt durch die Künste, befreit von pragmatischer Kurzsichtigkeit und dem laufenden Renditewahn.

 

Malerei, die unbemerkt Epochen versöhnt
Die geschichteten Malskulpturen von Christoph Seidel geben sich nun als eigentümlich anziehende und im Material komprimierte Bedeutungsträger. Diese erwächst neben dem Material Farbe aus der konkreten, praktischen und meditativen Handlung, aus dem Umgang mit den Erfordernissen und Anforderungen, die jedes Material nun einmal stellt. Christoph Seidel, das muss hervorgehoben werden, lebt in und mit seinen Handlungen. Er begleitet das von ihm ausgelöste Geschehen und bleibt doch auch wie gebannt außerhalb seines Tuns. Er nutzt dazu alle verfügbaren Materialien aus dem Hier und Jetzt, die ihm helfen, den Experimentiercharakter seiner Malkonstrukte fortzusetzen. Doch das Malerische scheint darin trotzdem auf und atmet als Gestalt zurück. Es ist, als stünde die sich gegenwärtig mehr und mehr entfaltetende Arbeitsweise von Christoph Seidel zwischen den Epochen der verharrenden, teils sehnsüchtigen Romantik und der offensiven, sich aufgeklärt gebenden Moderne.

Wer die Malskulpturen bewusst räumlich betrachtet, sie dreht und von allen Perspektiven einsieht, der entdeckt von der Seite Variationen ausgedehnter Landschaftsformationen, von vorn dagegen Variationen des Rasters. Es sind weiche und doch stabile Bildwerke, die seitlich morgendliche Nebellandschaften oder taghelle mediterrane Sonnenuntergänge vermitteln und von vorn erkundet als Raster endlos erweiterbar aufscheinen, würden da nicht die Gesetze des Materials Farbe Einhalt gebieten. So entfalten die Farbgerüste den Charakter von einander verknüpften Haltepunkten, die sich aus Maltechniken erklären und tief in das Wesen der Zeit zwischen Romantik und Moderne verweisen.

Mit dem gegenwärtig politisch erkennbaren Ausklang der Epoche der Moderne, die ihre wilden Exzesse der Barbarei im 20. Jahrhundert auslebte, wird hier die Moderne auf die Romantik des beginnenden 19. Jahrhunderts bezogen. Das Irrrationale des Ungewissen und das Rationale des Konstruktiven, einander sich scheinbar ausschließende Umgangsweisen mit der Welt, sie spiegeln sich nunmehr ineinander. Und dabei geschieht etwas Erstaunliches: Wir spüren für Momente unseres Schauens, dass wir versöhnt werden mit dem langen 19. Jahrhundert, um uns erneut und ermutigt dem unbestimmt Kommenden zuzuwenden. Was hier erarbeitet wird, ist eine Malerei, die sich in ihrer äußerst langsamen und abgeschiedenen Entstehungsart der hochgefahrenen Nervosität unserer Tage entgegenstellt. Dabei erkennen wir, dass in Seidels Malerei subtil unsere Epoche als ein Zwischenstadium eingewoben ist. Die geschichteten Gitter sind Träger und zugleich Ausdruck unserer Zwischenzeit, unseres Dazwischenseins. So werden sie uns zu sinnlichen Haltepunkten der Improvisation, die zugleich ganz unserer unbestimmt lavierenden Suche nach neuen Formen von Stabilität folgen.

Indem Seidel seine stillen, kleinteiligen Malskulpturen vor sich hin tröpfelt, umkreist er gesichertes Wissen und verlässt es zugleich. Das eingangs erwähnte Gemisch aus gesetzter Erfahrung und offener Erwartung jedenfalls braucht Kunst wie diese, um uns in Geduld und Offenheit zu üben. Es ist, als wolle Christoph Seidel uns sagen, dass wir mit dem auskommen müssen, was wir gesichert wissen und doch anerkennen sollten, dass es um Unbestimmtheit geht, der wir uns vorsichtig und ausgewogen nähern können.

 

 

Dirk Manzke hat Architektur und Städtebau in Dresden und Tiflis studiert. Später engagierte er sich zunehmend für Kunst und Kunst im öffentlichen Raum, ist Verfasser zahlreicher Textmaterialien zu den Themen Stadt, Architektur und Kunst und Vorstandsmitglied der Freunde der Kunsthalle Osnabrück e.V. Er ist Ideengeber und Ko-Kurator des Kunstprojektes TANGENCY, dass 2012, 2015 und 2018 im öffentlichen Raum der Stadt Osnabrück umgesetzt werden konnte. Gegenwärtig hat er eine Professur für Städtebau und Freiraumplanung an der Hochschule Osnabrück inne.

 

Bereits seit Jahren untersucht Seidel die raumschaffenden Möglichkeiten der Malerei. Seine Dynamik erhält diese Auseinandersetzung ganz konkret durch den Antagonismus von Plastischer Oberflächen und transparenten Bildträgern der bisher häufig großformatigen Arbeiten.

Die Ausstellung läuft vom 26. Mai bis 23. Juni 2018 im Kunstverein Trier Junge Kunst.

Weitere Informationen zu der Ausstellung, erhalten Sie auf der Website des Kunstvereins Trier Junge Kunst unter diesem Link.