1. Juni 2016

Verleihung des Kunstpreises 2016

Auszüge aus der Laudatio von Helen Koriath zur Verleihung des Kunstpreises des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land 2016 an Christoph Peter Seidel im Juni 2016

 

…. Christoph Seidels Kunststudium scheint insbesondere im Blick auf die neuesten Farbarbeiten späte Früchte zu tragen, die aus der Paarung von Malerei [Prof. Zellmann] und Plastik [Prof.Isenrath] hervorgegangen sind. Um es kurz zu machen: die Arbeiten von Christoph Seidel müssen in ihrer jeweils entsprechenden Präsentationsform erlebt werden. Dazu bieten am besten die von ihm eingerichteten Ausstellungen Gelegenheit. Denn nur in den vom Künstler vorgenommenen Inszenierungen im Raum tritt seine Kunst wie ihr zugedacht in Erscheinung. Zwar ist zweifelsfrei auch ein Besuch bei Christoph Seidel im Atelier ein Erlebnis. Inmitten der im Laufe von drei Jahrzehnten entstandenen überwältigenden Fülle an Arbeiten werden Arbeitsprozesse nachvollziehbar und technische Verfahren transparent. Aber erst in der im Zusammenspiel mit den räumlichen Gegebenheiten vorgenommenen künstlerischen Inszenierung entfalten die Arbeiten, vor allem die neueren, objekthaften, ihr jeweils spezifisches Wirkungsspektrum. …..

….. Bei fortschreitender Auseinandersetzung mit der Malerei, ihren Bestandteilen, mit dem Verhältnis von Farbe zum Malgrund und ihren Bezügen zu Bild-Träger und Bild-Format werden seine Entscheidungen immer deutlicher, bis sich Farbe und Träger verselbständigen und sich Farbe radikal als alleinige Materie im Raum behauptet und darin „erscheint“. Wer die Ausstellung „Laboranordnung“ im letzten Spätsommer im Ausstellungsraum des BBK in Osnabrück gesehen hat, konnte sich einen Eindruck von diesen radikalen Farb-Arbeiten machen.

Christoph Seidel mischt seine Farben zu zähfließenden Massen und verarbeitet sie so, dass Handschrift, verstanden als Körperbewegungen, im Zusammenspiel mit den Materialeigenschaften der Farbmassen richtungslos instabile Raumtotalitäten als dynamische Prozesse entstehen. Der freie Umgang mit Farbe meidet alle starren theoretischen Normen, bedeutet auch Ausdruck geistiger Freiheit.

Seit einiger Zeit wird die Farbe – Linie für Linie, Schicht für Schicht, Strang für Strang, in langwierigen, immer wieder dieselbe Bewegung wiederholenden, nahezu ritualhaften Prozessen getropft, gezogen, aufgebaut und allmählich zum realen Gegenstand im Raum – zu Raster, Gitter, undefinierbaren Verdichtungen, wird zu Rahmen, flachen Schalen, in die Höhe strebenden kegelförmigen Hohlformen und Gefäßen.

Es ist nur noch ein (kleiner und) folgerichtiger Schritt von den immer mehr zum Relief tendierenden Bildern zum deutlichen Ausbruch aus der Malerei. Er vollzieht sich nicht gewaltig, laut oder gar provokant wie bei Lucio Fontana und Robert Rauschenberg in ihrer Zeit. Die Kringel, Kreise, Spiralen, die eine deutliche Tendenz zu Kontrolle und Definition aufweisen, verlassen vielmehr die sichere und stabile Ordnung des an vier Seiten verankerten Kraftfeldes und stellen das Starre und Festgefügte ihrer Umgebung in Frage. Aus ihren alten Kontexten herausgelöst, erscheinen die expressiven Gerinnsel und Wirbel wie beruhigt und zu kleinen Raumgebilden geworden, die ihre nun eher meditativ-rituellen Handlungen zu verdankende Objektbildung zur Anschauung bringen und im Nachvollzug den Betrachter daran teilhaben lassen.

Darüber hinaus wird fast alles, was hilfreich für die Farb-Form-Gestaltung sein kann, in die Arbeitsprozesse einbezogen. Farbdosen und -töpfe, gefüllt mit überbordenden Farben und Malutensilien, an denen nach längerem Gebrauch die Farbe sich Schicht um Schicht abgelagert hat, scheinen sich wie von selbst in Kunstwerke zu verwandeln. Der Umgang mit Farbe wird zum plastischen Prozess.

Wir erleben aber – meiner Meinung nach – in der Kunst Christoph Seidels genauso gut noch etwas ganz anderes: wir erleben aus der Anschauung der neueren Arbeiten die Zerstörung alter „Bilder“ durch archetypische Zeichen und Gebärden als tief im Menschen veranlagte Urerfahrungen, wie sie als das „kollektive Unbewusste“ (Sigmund Freud) im Mythos oder Märchen auftauchen.


Helen Koriath ist Professorin für die Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart am Kunsthistorischen Institut der Universität Osnabrück