29. September 2010

Einsamer Wanderer in der weiten Landschaft der Malerei

Frag nach bei Caspar David Friedrich: Der Bad Iburger Künstler Christoph Seidel lotet Möglichkeiten der Landschaft neu aus.

 

Liesborn. In seinem berühmten Gemälde „Das Eismeer“ türmt der Romantiker Caspar David Friedrich 1823/24 scharfkantige Eisschollen zur Kathedrale eisiger Hoffnungslosigkeit auf. Im Packeis zerschellt alles: ein stolzer Segler als Zeichen politischen Aufbruchs, der Traum vom Künstlerruhm und die Gattung der Landschaftsmalerei, die in Friedrichs klirrend kaltem Bild an einen Extrempunkt gelangt.

2010 zerbricht der Bad Iburger Maler Christoph Seidel ein riesiges Landschaftsbild in scharfkantige Fragmente. 23 dreieckige Farbkörper arrangiert Seidel für seine Rauminstallation im Museum Abtei Liesborn bei Münster zu einem sieben mal vier Meter großen Malgelände. Mit ihren Brüchen und Kanten, Fugen und Ecken verkeilen sich die Bildkörper zu einem fragmentierten Terrain. Das Gemälde als installierte Landschaft einer Malerei jenseits der Malerei?

Der 1964 geborene Maler Christoph Seidel hat den Mut, seine Malerei mit dem unübersehbaren Zitat des legendären Motiv Friedrichs als Arbeit an Ehrfurcht gebietender Tradition auszuweisen. Der Rückgriff auf den Mythos der Romantiker von der Landschaft als Gleichnis einer endlosen und damit letztlich unbegreifbaren Natur definiert die Frage, die Seidel heute an die Malerei stellt: Wie kann sie überhaupt zum Medium von Naturerfahrung werden? Und wie zum Gleichnis des großen Ganzen?

Seidel antwortet auf diese Fragen mit einer auf ihren Ausstellungsort bezogenen Installation. In Liesborn findet er dafür ideale Bedingungen. An die Klosteranlage, die seit 1966 das kulturgeschichtliche Museum des Kreises Warendorf beherbergt, schließt sich ein mit grüner Glaskeramik ummantelter Ausstellungskubus an. Seine Raummaße bezieht er von einem wandfüllenden Gemälde des InformelKlassikers Fritz Winter (1905–1976). Ein Stockwerk tiefer antwortet nun der an der Akademie Münster ausgebildete Seidel auf Friedrich – und indirekt auch auf Fritz Winter. Seidel konfrontiert seine Bodenarbeit obendrein mit vier Gemälden des münsterländischen Landschaftsmalers Heinrich Schilking (1815–1895). Dessen Bergmotiven und Meereslandschaften setzt Seidel eindrucksvoll entgegen, was heute noch Landschaftsmalerei sein kann. Er zerbröselt die heile Welt des Genres, weitet das Motiv der Landschaft zur tendenziell unendlichen Malfläche. Auf Elemente aus Hartschaum schichtet Seidel Silikonfarbe, Dispersion, Acrylfarbe und Parkettlack zu plastisch aufliegendem Relief. Im Schütten, Spachteln, Tröpfeln eifert Seidel dem Dripping Jackson Pollocks nach. Verteilungen von Farbflecken und Formspuren erzeugen eine rhythmisch pulsierende Malstruktur – Variationen inbegriffen. Seidels Malerei bildet Landschaft nicht ab, sie ist selbst eine. Der Malprozess gerät zur Wanderung, die sich ihr Terrain im eigenen Fortgang selbst erschafft. Wie seine großen Vorbilder lotet Christoph Seidel das Wagnis einer Malerei von umfassendem Anspruch aus. Damit ist er denkbar unzeitgemäß. Relevante Beiträge zur Kunst waren dies jedoch schon immer – weil sie den Raum des Vorstellbaren aufsprengten.

Liesborn, Museum Abtei: Kontinuum: HeinrichSchilking – Christoph Seidel. Bis 24. Oktober. Di.–Fr., 9 – 12 Uhr, 14 – 17 Uhr,Sa., So., 14 – 17 Uhr


Ein Artikel von Stephan Lüddemann